7. März 2022

Du sollst nicht töten - Eine estnische Perspektive

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Allan, der seit etlichen Jahren einen europäischen Bibeldialog leitet, lebt  in Estland. Schon bei unseren Besuchen dort hat er mir einige Einblicke in das Leben der Est*inne geschenkt, auch in ihre Einschätzung der Gefahren von russischer Seite. Ich habe ihn um ein paar Gedanken zur aktuellen Situation und zu Putins Krieg gebeten.

„Eine Zeit hat die estnische Schriftstellerin Hella Wulijoki (1886-1954) in unserem Haus in Valga gewohnt. 1914 komponierte sie aus estnischen Volksliedern ein Klagelied über den europäischen Kriegswahn: Soja laul Das Estnische Kriegslied Ein Poem. Berthold Brecht half ihr, das Lied zu verdeutschen und benutzte es im Kaukasischen Kreidekreis. Zu Hella Wulijokis Entsetzen verlegte er es aber mit Rücksicht auf die Sowjetunion, die Estland okkupiert hatte von Estland in den Kaukasus. In den estnischen Liedern wird beschrieben, wie die Russen die jungen Leute in den Krieg zwingen:

"Als der Bruder auszog,
als er den Kriegsweg ging,
schaute er heimlich heimwärts,
wandt' er die Augen zum Dorfe zurück.
Wer war daheim? Die Liebste,
die Mutter war daheim, die Teuerste.
Die Schwester war daheim, die Liebste,
die Mutter war daheim, die Teuerste.
Die Landsknechte befragten ihn,
die Schlachtherren waren neugierig:
Wer blieb dir daheim? die Liebste?
Die Liebste, die Teuerste?
   Oh, ihr dummen Landsknechte,
   oh, ihr gestrengen Kriegsfürsten ..."

In Estland hatte auch die Regierungschefin Kaja Kallas den Krieg erwartet und die estnische Gesellschaft hat sich auf einen Guerillakrieg vorbereitet.

Im Westen ist eher die Rationalität der Kaufleute vertreten - es wird so lange verhandelt, bis eine Win-win-Situation erreicht ist. So hatte man viel von der Drohung mit Sanktionen erwartet. Die estnischen Politikerinnen und Politiker sind aber wie die Polen und Baltinnen näher an Moskau dran, weil sie die Mentalität und Sprache kennen. Die Rationalität Moskaus ist eher die einer Gang: Der Pate und seine Gang können nicht mehr in eine rechtlich geregelte Zivilgesellschaft zurück, sondern können sich nur durch die nackte, ideologisch verbrämte Macht halten.

Das Gebot "Du sollst nicht morden" hat Jesus zum Gebot "Du sollst nicht töten" verschärft - jede, jeder die oder der tötet, übertritt dieses Gebot. In Russland hat die Russisch-Orthodoxe Kirche die Buße vergessen, die sie weitgehend getan hat, als das von ihr ideologisch unterstützte imperialistische Zarenreiche zusammenbrach. Heute steht sie zumindest mit den obersten Rängen ihrer Hierarchie wieder auf Seiten des Imperiums. Aber auch die Verteidigerinnen der Freiheit und Zivilgesellschaft in der Ukraine stehen unter dem Gebot Christi. Im Westen, der den "heroischen" ukrainischen Widerstand feiert, scheint dies nicht der Fall zu sein. Der ukrainische Widerstand und dessen westliche Unterstützung kann nur mit einem Schuldbekenntnis verbunden christlich sein: die- und derjenige, die bereit sind russische Soldaten zu töten, treten als Sünder*innen mit leeren Händen vor Gott. In Deutschland hat dies Dietrich Bonhoeffer sprachlich eindeutig zum Ausdruck gebracht und konsequent praktiziert.

Der polnische, baltische und estnische Nationalismus ist nicht der nationalistische, sondern eher der 1848 demokratische Nationalismus. Die Leute hier wollen über ihr individuelles, kulturelles und gesellschaftliches Lebens selbst bestimmen, d.h. wollen einfach anders sein dürfen, wollen aber niemandem, wie es die kolonialen und imperialen Mächte immer versuchen, ihre Ordnung aufzwingen. So versuchen wir hier auf Sarapuu, den Kontakt zu unseren russischen Bekannten zu halten und den Ukrainerinnen Solidarität zu zeigen. Vielleicht haben wir dann auch hier wieder Flüchtlinge in unserem Haus.

Aber auch wenn wir gewaltfrei den Widerstand unterstützen wollen, werden wir ebenso schuldig, wie die, die aus Estland zum Kämpfen in die Ukraine gehen. Wir lassen durch das Nichthandeln zu, dass Menschen unterworfen, ausgeplündert, vertrieben, sogar getötet werden.

Allan hat in seinen folgenden Ausführungen auch Recht, wenn er vorschlägt, dass die Europäischen Bibeldialoge als einen Schwerpunkt den doch tiefgehenden Ost-West- Gegensatz in Europa aufnehmen. Wo dies nicht schon geschieht, einfach durch die Begegnung. Nicht nur der weitgehend autoritär geprägte Osten, sondern auch der weitgehend nutzenorientierte Westen hätte Anlass zur Umkehr.

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