10. März 2022

Eine estnische Perspektive

 *** If you wish to read a summary of this post in English, please mail to hahn@eaberlin.de. 

Allan lebt seit etlichen Jahren in Estland und  ich bin ihm sehr dankbar für seine Perspektive - aus estnischer Sicht auf die aktuelle Situation in der Ukraine. Wie vermutlich die meisten hier im Westen habe ich bisher vor allem aus westlicher Perspective nach Russland geschaut und viel zu selten genau genug hingehört, wenn unsere Tagungsteilnehmer*innen aus ehemaligen Sovietländern  höflich und zurückhalten widersprachen. Ich schätze Allans Analysen sehr, deshalb teile ich heute seinen Text hier:

...In Estland ist die Lage weiter ruhig, aber angespannt. Eine Umfrage hat ergeben, dass etwa ein Drittel der muttersprachlich russischen Bewohner hier Putins Argumentation unterstützt - eher die älteren, noch sowjetisch sozialisierten Bürgerinnen, dass aber der Rest Moskau gegenüber eher distanziert ist. In Estland gibt es besonders am Peipussee viele altorthodoxe Russinnen und Russen, die schon im 17. Jh. die russisch-orthodoxe Kirche verlassen haben und dann wg. der Verfolgung durch Moskau (inklusive Verbrennungen), durch Zar und Patriarch auch nach Estland geflohen sind. Sie sind kulturell russisch, religiös animistisch-orthodox und politisch estnisch orientiert.

In Moskau ist die Zivilgesellschaft als kritisches Gegenüber zur politischen Macht weitgehend ausgefallen. Die Hierarchie der russisch-orthodoxen Kirche mit Kyrill II an der Spitze verteilt Orden an den Führer der Kommunisten, Sjuganow und an den Führer der Faschisten, Schirinowski, die auch Mitglieder der russisch-orthodoxen Kirche sind. Kyrill II hat Putin immer wieder für die materielle Förderung der russisch-orthodoxen Kirche durch den Staat gedankt und legitimiert den Krieg gegen die Ukraine theologisch, indem er ihn als Verteidigung Russlands gegen die Gay Pride Paraden und damit als Verteidigung des Gesetzes Gottes bestimmt. Die nationalistische Definition des Russen ist: orthodox, für eine autoritäre Führung, gegen die Schwulen. Da es in Russland keine freien Medien und kein freies Parlament gibt und die kirchliche Hierarchie opportunistisch mit der staatlichen Gewalt kooperiert, hat auch nichts und niemand mehr das Gewissen Putins und seiner Gang erreicht.

Aber auch die Politikerinnen und Politiker im Westen haben Putin nicht mehr erreicht. Er hat erlebt, dass im Westen kaum jemand gegen den Krieg im Jemen protestiert hat, in dem von der saudischen Luftwaffe strategisch Krankenhäuser, Schulen, Wasser- und Kraftwerke usw. bombardiert werden, und dass Saudi-Arabien vom Westen nicht boykottiert wurde. Er ist dann davon ausgegangen, dass der Westen im Prinzip genauso interessenbezogen handelt wie er selbst und dass moralische Argumente von Biden, Scholz und Makron nur Lippenbekenntnisse sind und dass daher im gegenseitigen Interesse die Ukraine verhandelbar sei. Die Politikerinnen und Politiker in Estland, die mit dem Trauma zweier sowjetischer Besatzungen Estlands im Gepäck Politik machen, haben aber schon gleich darauf hingewiesen, dass mit einer molotow-ribbentrop-artigen Verhandlung über die Ukraine Russland irgendwann auf Kosten der baltischen Länder den nächsten Schritt versuchen würde.

Der jetzige Boykott Russlands ist nicht moralisch motiviert, sondern liegt im Interesse der westlichen Länder.

Das erneute Versagen der russisch-orthodoxen Kirche, die besonders in den arabischen Ländern beklagte Unmoral der westlichen Politik und das opportunistische Schweigen der evangelischen und katholischen Kirche im Falle des Jemen zeigt meines Ermessens, dass wir alle schuldig für das sind, was jetzt in der Ukraine geschieht.

Ich denke jetzt, dass wir im Westen Buße tun müssen und wenn der Krieg hoffentlich vorbei ist, uns bemühen sollten, mit den Russinnen und Russen – auch mit denen, die uns nicht passen – in den Dialog zu kommen. Neben den kruden politischen Ideen Dostojewskis gehören zur russischen Tradition, leider nur in einer Minderheit, auch die radikal pazifistischen Lehren Tolstois. Als Christinnen und Christen leben wir mit der Verheißung, dass Gottes Wort eine wunderbar schöpferische Macht hat. Das wäre ja ein Projekt für das die Europäischen Bibeldialoge wie geschaffen sind. Und dieses Wort ist uns anvertraut. In Valga haben wir eine Wohnung für Flüchtlinge freigemacht.

Hier auf dem Hof wollen jetzt auch wir aus ökologischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Gründen in Bezug auf Energie autark zu werden. Weil aber die Installation von Photovoltaik und Windenergie preislich explodiert ist, versuchen wir zuerst durchs Sparen von Energie etwas zu erreichen.

Herzliche Grüße!

Allan

 


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