31. Mai 2020

Was Martin Luther und eine Schildkröte uns zu Pfingsten sagen

*** if you would like the English interpretation of this sermon, please contact me: hahn@eaberlin.de
 Predigt von Altbischof Klaus Wollenweber in der Auferstehungskirche 15.05.2016 zu Apg. 2, 1-13
… Vor fast 500 Jahren sagte Martin Luther in seiner Pfingstpredigt zu diesem Abschnitt aus der Apostelgeschichte in seiner kraftvollen Sprache: „Die Jünger saßen aus Furcht zusammen und hatten keine Freude. … Aber der kleine Haufen, jene hundertzwanzig – eingeschlossen und betrübt – konnte nicht fröhlich sein. Und dann kam plötzlich der Geist und braust – wie der Text sagt – und saß auf ihnen, in Feuerzungen zerteilt, und daher leuchteten sie wie Feuer. … Das andere Zeichen ist noch größer: diejenigen, die sich vorher in der Ecke verkrochen und sich gefürchtet hatten, traten hinaus unters Volk, schon so keck, dass sie auf den Marktplatz gingen, und begannen frei zu reden und zu predigen. Wenn ein Mensch ein verzagtes Herz hat und zufrieden wird, ist es gewiss die allergrößte Kraft und größer als der Tod, Sünde, Welt, Teufel. So hat das Regiment des Evangeliums angefangen mit jenem Wunder, dass die Blöden kühn geworden sind; die Laien sind mit einem Mal die Gelehrtesten geworden, die es auf Erden gibt.“
Soweit Martin Luther. Das Pfingstfest ist das Fest des Heiligen Geistes, des gegenwärtigen Wirkens Gottes. Es ist ein Fest des Lebens, bei dem Grenzen fallen, verzagte Menschen plötzlich Lebensmut bekommen, alte Barrieren überschritten werden. Die Umstehenden sehen es, spüren es, hören es und verstehen es sogar sprachlich! Es ist ein mehrsprachiges Fest mit großer Begeisterung auf der einen Seite und Spott auf der anderen Seite: die Jünger sind betrunken! Wir würden heute sicher noch hinzufügen: die spinnen ja! Die sind im Kopf nicht ganz richtig! -
Liebe Gemeinde, ich hatte mal in einem Fernsehgottesdienst am Pfingstsonntag zu diesem Text in der Peterskirche in Görlitz zu predigen. Dazu hatte ich mit auf die Kanzel diese Schildkröte genommen, die von einem Owambo aus dem Norden von Namibia aus Holz geschnitzt war. Ich habe sie dort von ihm erhalten, und sie steht bis heute noch bei meinen Büchern im Arbeitszimmer.
Für mich ist die Schildkröte mehr und mehr zu einem Symbol für das Pfingstgeschehen, für das neue gewagte Leben geworden – völlig unabhängig davon, ob ein Mensch einer christlichen Konfession angehört oder nicht. Für jedes Leben gilt: Wie die Schildkröte komme ich nur vorwärts, wenn ich meinen Kopf unter meinem geschützten Panzer, hinter meinem Schild hervorstrecke. Allein um meine Umgebung wahrzunehmen und die Vorgänge um mich herum zu beobachten, – ja, um essen und trinken zu können, muss ich meinen Kopf hervorwagen. Ich kann mich nicht versteckt halten. Andernfalls würde ich wie eine Schildkröte – gepanzert und gesichert – langsam aber sicher eingehen.
Ich übertrage auf uns heute: Christen kommen nur vorwärts, wenn sie ihren Kopf unter ihrem Panzer von Gefühlen, Zweifeln und rationalen Gedanken hervorstrecken. Das Pfingstfest zu feiern, heißt wirklich: ein klares Wagnis eingehen: heraus aus dem gewohnten Denken, den geschützten Räumen, der Geborgenheit des Bewährten. Ohne das Wagnis, sich auf Neues einzulassen, geht nichts vorwärts – wie bei der Schildkröte.
Die Anhänger Jesu waren damals in geschlossenen Räumen zusammen: sie beteten, erzählten sich Erinnerungsgeschichten und aßen miteinander – alles gut so und prima. Aber es fehlte der Aufbruch; und wider alle Erfahrung kam der Anstoß: in die Öffentlichkeit gehen, in anderen Sprachen sprechen, sich fremden Menschen zuwenden und ihnen von Jesus Christus erzählen. Ich kann nicht erklären, wie dies passiert ist,
woher die Jünger plötzlich den Mut bekamen und dieses Wagnis auf sich nahmen. Ich lasse dies als Wunder so stehen.
Ich nehme jedoch auch wahr, dass nicht alle mit so einem gewagten Aufbruch einverstanden sind. Wenn wir den Kopf und das Herz mit dem christlichen Glauben unter dem Schutzschild hervorstrecken, dann setzen wir uns auch Verleumdungen, Diffamierungen bis hin zu Anfeindungen aus. Die Christen in der arabischen Welt erleben dies heute wesentlich mehr als wir hier. Eher auf der intellektuellen Ebene erfahren wir so Fragen wie: Glaubst du wirklich noch an Gott? Zu wem betest du denn? Glaubst du an das ewige Leben nach dem Tod? In der Bibel stehen doch nur lauter Märchen! usw.
Möglicherweise können Sie von eigenen Erfahrungen berichten, wo und wann es für Sie ein Wagnis war, den christlichen Kopf mit dem Glaubensverständnis über Jesus Christus und die biblischen Schriften aus der geschützten Geborgenheit hervorgestreckt zu haben.
Pfingsten im Alltag des Lebens: das ist kein Rückzug des Glaubens in das private Kämmerlein, in den geschützten Intimbereich! Das bedeutet: Kopf raus und hoch! Augen geradeaus! Vorwärts im Leben und zielstrebig rangehen, was auch immer vor einem liegt!
„Sie haben gut reden“, mögen jetzt einige von Ihnen denken, „wenn Sie in meiner Situation wären, da habe ich schon so viel versucht und weiß nicht mehr weiter vorwärts!“ Ja, ich kenne dies auch in meinem eigenen Leben: da ist häufiger eine Armut an Begeisterung, an Lebendigkeit, an Beweglichkeit und Bewegtheit.
Die Sehnsucht nach einem Pfingstereignis heute wächst zugleich mit einer Ratlosigkeit, weil der Heilige Geist nicht käuflich und nicht einfach verfügbar ist, wie wir es möchten. Den Heiligen Geist haben wir nicht in der Hand, und er kommt nicht auf Bestellung. Dennoch wirkt er in unserem Leben – unsichtbar, unverfügbar, aber gegenwärtig!
Ich tröste mich selbst sehr häufig mit den Worten des Theologen Werner Jetter, der es einmal in einer Predigt zu Pfingsten so ausgedrückt hat: „Das Bekenntnis zum Heiligen Geist verheißt den Glaubenden keine Triumphe. Er verheißt nicht die Verherrlichung der Dienstleute Gottes. Was immer an Pfingsten geschah – eine strahlende Geist-Kirche ist dort nicht geschaffen worden.“
Ich denke: ein bisschen mehr Begeisterung von uns heute wäre schon gut. Wir bezeugen mit unserem Lebensstil und mit unserer Lebens- und Weltsicht die Kraft des Geistes Gottes heute. Sensationen verspreche ich mir nicht, aber mehr Mut zum gegenseitigen Verstehen und zum neuen Hören auf die Andersdenkenden und Andersglaubenden im Alltäglichen. Denn dies ist mehr als nur Toleranz; es ist Anerkennung des anderen Menschen als Geschöpf Gottes in und mit seinen unterschiedlichen Wurzeln in der Kultur, im Denken und im Handeln. Wahrnehmen und nicht einfach abtun, was die einen oder die anderen sagen, glauben und leben. Wie begeisternd, wenn wir mit unserem Lebensstil und mit unserer Lebenssicht bei solchen Begegnungen ansteckend wirken. Pfingsten ist das Fest des begeisterungsfähigen Lebens!
Der Geist Gottes verfügt nämlich über einen unermesslichen Reichtum an Frieden und Erbarmung, an Liebe und Vergebung, an Versöhnung und Humor – davon bin ich fest überzeugt. Es ist ein Reichtum der Herrlichkeit des dreieinigen Gottes, der nichts für sich behalten will, sondern uns mit allem beschenken möchte.
Ich komme nochmals auf mein Bild von der Schildkröte zurück: Eine Schildkröte stört es überhaupt nicht, dass sie langsam vorwärts kommt. Sie ist der Inbegriff von Geduld, Ausdauer, kleinen Schritten. Gucke ich sie in meinem Arbeitszimmer vor meinen Büchern an, so erinnert sie mich daran: Mach nicht so schnelle Schritte! Geh langsam! Pack eins nach dem anderen an! Zügle dich mit schnellen Urteilen, leichten, unbedachten Äußerungen und Vorurteilen! Guck lieber mit wachen Augen deine Umgebung und die Menschen an.
Ja, und dann: Nimm den Kopf auch mal zurück – wie eine Schildkröte – und bleibe eine Weile in deinem geschützten Panzer; sammle Kraft und Mut für einen neuen pfingstlichen Schritt, einen gewagten, begeisterten Aufbruch.
Der Heilige Geist macht nicht nur an Pfingsten Ihnen und mir Mut für den weiteren Weg des Lebens, sondern jeden Tag neu.Amen
Klaus Wollenweber war jahrelang als Oberkirchenrat zuständig für die Berliner Bibelwochen, aus denen die Europäischen Bibeldialoge hervorgingen und noch länger war er einer unserer Tagungsleiter. Als Vorsitzender des Komitees der Bibeldialoge hat er diese Tagungen bis vor wenigen Jahren mit Rat und Tat unterstützt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hier können Sie meinen Eintrag kommentieren. You can leave your comments here.