10. November 2020

Wo Gerechtigkeit und Frieden sich küssen...

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Altbischof Klaus Wollenweber, der viele Jahre schon den Bibeldialogen verbunden ist und sie als Oberkirchenrat auch durch die Wendezeit begleitet hat, stellt uns seine Predigt vom vergangenen Sonntag in der Bonner Friedenskirche für den Blog zur Verfügung. Seine Bibelauslegungen haben wir so manche Anregung geschenkt, die meinen Glauben reicher gemacht haben. Danke dafür.

Psalmenverse sind jedem Sonntag im Kirchenjahr zugeordnet. Diese werden meist von uns in der Eingangs-liturgie des Gottesdienstes gesprochen oder in einer anderen Übertragung des hebräischen Textes gehört. Wir Christinnen und Christen übernehmen damit uralte Gebete und Lieder des Volkes Israel. Wir knüpfen ein Band zwischen jüdischem und christlichem Glauben in unserem sonntäglichen Gottesdienst.
Psalmengebete und Psalmenlieder spiegeln das Leben der glaubenden Israeliten wider; sie waren damals in ganz unterschiedlichen Lebens-Situationen entstanden: Dank- und Lobgebete neben den Klage- und Notgesängen, Hilfe-schreie des Einzelnen neben Bekenntnisausrufen einer Gemeinschaft. Der Psalm für den 8.11. hat zwei Teile: im ersten Teil ist er ein Volksklagelied mit dem Ruf nach Wiederherstellung der Gemeinschaft des Volkes Israel mit Gott; im zweiten Teil – in den für den heutigen Sonntag vorgesehenen Versen – gibt es für die klagende Gemeinde eine prophetische Antwort Gottes.
Könnte ich doch hören, was Gott der HERR redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen, auf dass sie nicht in Torheit geraten. Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserm Lande Ehre wohne; dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen; dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue; dass uns auch der HERR Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe; dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe und seinen Schritten folge. (Psalm 85, 9-14)  
Die klagende Gemeinde erwartet auf ihre Bitten und ihr Flehen eine Antwort Gottes – vor vielen hundert Jahren ebenso wie wir heute. Wir erwarten doch auch auf unsere Fürbitten eine Antwort Gottes, nicht zuletzt in dieser Corona-Pandemie-Krisenzeit endlich ein spürbares Eingreifen Gottes. Wir beten und beten, aber statt Frieden gibt es immer mehr Unfrieden, statt Gerechtigkeit und Eigenverantwortung immer mehr unverständliche Regeln und Fremdbestimmung unseres Alltags, statt Zufriedenheit immer mehr Unsicherheit. Nicht zuletzt erschreckt mich und andere das, was sich in der freiheitlich-demokratischen USA in der vergangenen Woche ereignet hat.
Sind Sie und ich mit unserem christlichen Hoffnungs-Glauben insgeheim schon gekennzeichnet von Enttäuschung, Resignation und Skepsis? Haben wir ein barmherziges und gerechtes Handeln Gottes bereits in Zweifel gezogen? Und weiter frage ich: Was gibt uns das Recht zu hoffen, dass die Gerechtigkeit des Reiches Gottes unter uns Menschen wächst, wie der Psalmbeter verheißt? Was ermutigt uns zu der Hoffnung, dass das Vertrauen unter uns Menschen zunimmt und nicht verlorengeht?
Zu einer christlichen Antwort gehört meiner Meinung nach zunächst eine Klarstellung: Oft ist es so, dass wir christliche Mitmenschen am liebsten das Paradies auf Erden mit Gerechtigkeit und Frieden gleich und sofort und am liebsten in vollem Umfang erleben möchten. Wir sind häufig gegen-über Gott ungeduldig und maßlos – und zugleich auch misstrauisch!
Möglicherweise ist das die größte Torheit in unserem Glaubensverständnis, wenn wir uns – statt des vollen Vertrauens in Gottes Gerechtigkeit und Frieden – lieber auf Menschen verlassen und bewusst oder unbewusst die Wissenschaft, das Geld, Macht und Waffen verehren, jedenfalls in den Mittelpunkt stellen.
Darin liegt keine Treue und – wie der Psalmbeter sagt – darauf wächst auch keine Treue, keine Begegnung von Frieden und Gerechtigkeit. Es geht im Vertrauen des Glaubens um Gnade Gottes anstatt um Gnadenlosigkeit der Menschen; es geht um Treue anstelle der Lüge, der fake news, die unsere Gemeinschaft vergiften; es geht um Frieden mit Gott und untereinander anstatt Zwietracht, Hass und Streit. An manchen Stellen fehlt uns die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge in dieser Corona-Zeit; das macht mich orientierungslos; dann helfen auch unsere besten ethischen Grundsätze nicht mehr weiter.
Gerechtigkeit und Liebe Gottes sind unter uns Menschen kein Scheck, den man sofort auf der Bank einlösen kann. Gott ist kein automatischer Handelspartner unserer Gedanken, Vorstellungen und Wünsche. Das Reich Gottes, der Bereich des friedlichen und zuversichtlichen Zusammenlebens, ist überhaupt keine Handelsware.
Wir sind Christenmenschen, die nicht auf der Stelle treten, sondern lebendig in Bewegung sind. Wir sind – wenigstens gedanklich – unterwegs, schauen in die nächste Woche, leben von der Hoffnung, die nicht zuschanden wird. Es ist uns nicht versprochen, nicht biblisch verheißen, dass wir vorzeitig aus der Verantwortung für unser Handeln hier in dem jetzt von Corona geprägten Alltag entlassen werden.
Ich habe den Eindruck, dass wir manches Mal mit Gott viel ungeduldiger sind als mit uns selbst. Resignation ist jedoch nicht angesagt, vielmehr Zutrauen in Gottes Zukunft. Und das heißt: ein hoffender Glaube wird von uns erwartet.
Was ermutigt uns nun zu diesem hoffenden Glauben? Antwort: allein das Vertrauen in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi, der uns kein plötzliches Paradies oder paradiesisches Zusammenleben versprochen hat.
Jesus Christus hat ein Samenkorn in die Welt unter uns Menschen gebracht. Dieses Samenkorn der Liebe, des Friedens und der Gerechtigkeit verschwand und starb, um wachsen zu können und dann auch Frucht zu bringen. Wenn Sie fragen: Wo denn heute? Dann kann ich mit Christus nur antworten: Immer dort, wo Menschen diese Liebe und den Frieden nicht bei Gott einklagen, sondern selbst in ihrer Umgebung Liebe und Frieden stiften.
Das heißt: Wo Sie und ich nicht das Paradies bei Gott ertrotzen, sondern selbst Vertrauen schenken und Liebe wecken.  Der Psalmenbeter sagt: „Ja, sein Heil ist nahe bei denen, die Ehrfurcht vor Gott haben, so dass seine Ehre in unserem Land wohne. Güte und Treue begegnen sich; Gerechtigkeit und Frieden werden einander finden.“
Unser christlicher Wert „Güte“ kehrt nichts unter den Teppich und der Wert „Treue“ bleibt standhaft. Gerechtigkeit und Treue gehen sich nicht aus dem Weg, sondern umarmen sich, sagt der Psalmbeter. Unsere Welt wird aufatmen; die verwundete Erde wird heilen. Das sind die unerschütterlichen Zukunftsaussichten.
Ich betone zum Schluss und ermutige uns für diese neue Woche: Wir sind und bleiben ein immer noch wanderndes Gottesvolk – unterwegs zwischen dem geschehenen Heil durch Jesus Christus und dem zukünftigen, endgültigen Heil bei Jesus Christus. „Gerechtigkeit Gottes geht uns voraus und Frieden folgt seinen Schritten, Heil folgt seinen Spuren.“

So bewahre der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn. Amen.

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