31. Juli 2020

Das Gleichnis vom Virus

*** The English translation to this text was posted a few minutes ago, please scroll down in the blog.
Jiri ist seit vielen Jahren im Team der Studientagung für Theologiestudierende. Als Student hat er anfangs selbst teilgenommen.
Wie Sie wissen, war Jesus dafür bekannt, dass er das Reich Gottes verkündete und dies häufig in Gleichnissen tat, die sich am Alltagsleben der kleinen Leute orientierten. Mit Hilfe der Bilder aus dem Leben probierte Jesus den Leuten das Reich Gottes nahe zu bringen und die Verhältnisse im Gottesreich den Leuten zu erklären. Eines der Lieblingsmotive Jesu – der für seine häufige Teilnahme an Festmahlen bekannt war und den man darum mit Spott Fresser und Säufer nannte – war, das Reich Gottes mit einem grossen Festmahl zu vergleichen. Dieses Bild spricht mich – nach der Zeit des Social Distancing – besonders an, denn ich habe in der letzten Zeit vor allem die Gemeinschaft vermisst, dass Teilen, Mitteilen, die Nähe. Sie wahrscheinlich auch. Aber ich will heute ein anderes Motiv ins Visier nehmen, das Jesus gebraucht, um das Reich Gottes zu beschreiben, die Gleichnisse von Saatkorn. Da sie uns aber allzu vertraut sind, ist es schwieriger für uns, zu hören, was Jesus mit diesen Worten sagen wollte. Darum habe ich mir die Freiheit genommen und sie umgedichtet und aktualisiert.
Wie sollen wir das Reich Gottes abbilden? In welchem Gleichnis sollen wir es darstellen? Mit dem Gottesreich ist es wie mit einem Virus. Es ist sehr klein, so dass man es mit den Augen nicht sieht, doch es hat die Macht, Grosses zu bewirken. Es hat es die Fähigkeit, von einer Person auf die andere überzuspringen und sich schnell zu verbreiten, so dass es die ganze Welt in seinen Schatten stellt. Es wirkt manchmal im Verborgenen, manchmal hinterlässt es sichtbare Spuren. Und auch, wenn man es ihm nicht zutrauen würde, kann es das Leben der Menschen radikal verändern, bereits jetzt, nicht erst dann, wenn es mit voller Wucht kommt.
Etwa so könnte das aktualisierte Gleichnis von dem Senfkorn klingen, wenn Jesus es heute erzählen würde. Vielleicht runzeln Sie die Stirn: würde Jesus wirklich so etwas sagen? Ich denke schon, denn er zog es vor, zu provozieren, unmoralische oder problematische Bilder zu benutzen, um über Gottes Reich zu sprechen. Denken Sie nach: das eine Mal vergleicht er sich bzw. das Reich Gottes mit einem Dieb, der in der Nacht kommt, das andere Mal lobt er diejenigen, die Gelder hinterziehen oder sich auf unehrliche Art und Weise bereichern, um zu zeigen, was das kommende Reich Gottes wert ist und um die Leute zu einer Entscheidung, Meinungsänderung zu provozieren, an dem Reich teilzuhaben.
Lassen wir uns mal auf die aktualisierte Version des Gleichnisses ein. Wir alle haben in den letzten Wochen erlebt, wie schnell, dramatisch, überraschend sich unsere Welt, unser Leben innerhalb von kürzerer Zeit verändern kann. Wegen einem kleinen Virus, das zuerst sehr weit weg war und das nur ein paar Leute infiziert hat, wurde nach und nach eine Stadt nach der anderen, das eine Land nach dem anderen in Quarantäne versetzt, Geschäfte, Kirchen, öffentliche Plätze wurden geschlossen, Ausgangssperren ausgerufen, die Personenfreizügigkeit weltweit beschränkt, der Flugverkehr stillgelegt. Ein Virus, das nicht nach viel ausgesehen hat, hat in kürzester Zeit das Leben von Millionen, ja Milliarden von Menschen auf den Kopf gestellt, die Pfeiler unserer Wirtschaft und Gesellschaft erschüttert, Werte unserer Welt und unseres Lebens hinterfragt und uns bewegt, plötzlich anders zu denken, zu leben, zu handeln. Das, was vor einigen Wochen noch so wichtig, so dringend, so aktuell, so fest schien, wurde unwichtig, unwesentlich, sekundär, in Frage gestellt, umgeworfen und musste überdacht werden. Dafür hatten wir – wie seltsam für unser Leben – einmal mehr als genug Zeit.
Und genauso wie mit dem Virus verhält es sich auch mit dem Reich Gottes, das Jesus verkündet und verkörpert hat und das – im Gegenteil zu einem Virus – in erster Linie positive Konnotation weckt, obwohl auch das Reich Gottes seine Schattenseite hat: das Gericht nämlich. Jesus kommt in die Welt – in seine, so wie auch in unsere – mit der Botschaft, dass Gott vor der Tür steht, dass Gott uns und die Welt verändern will, dass er dem Hass, Neid, der Unterdrückung, der Ausbeutung, der menschlichen Entfremdung ein Ende bzw. dazu ein Gegenmodell setzen will. Er tut es ansatzweise in den Worten und Taten Jesu, die dazu gedacht sind, uns zu zeigen, was in der neuen Welt, die von Gott kommt, in der Zukunft – ja sogar in der ewigen Zukunft – wirklich zählt: nämlich Liebe, Vergebungsbereitschaft, Selbsthingabe, die uns Jesus vorlebt – bis zuletzt. Sie sollen uns als Illustrationen dessen dienen, was Gottes Willen entspricht, was er sich von uns Menschen verspricht, was er für uns und unser Zusammensein – untereinander und mit Ihm – will und plant. Und auch wenn es am Anfang noch nicht nach viel aussieht, auch wenn viele es nicht annehmen oder wahrhaben wollen, wenn sie sich der Macht der vergebenden Liebe, die Reue als eine Stärke und keine Schwäche betrachtet, verschliessen, fängt dieses neue Modell Gottes, dieses Keimen seines Reiches schon jetzt an, unter uns und in der Welt zu wirken und die Welt zu verändern – genauso wie ein Virus.
Gut, das Reich Gottes verbreitet sich nicht so schnell wie das Virus, aber es verbreitet sich trotzdem. Langsamer, weil es im Gegenteil zu einem Virus nicht aggressiv ist, aber sicher, bis es die Menschen ansteckt, in ihrem Inneren Platz gewinnt und anfängt zu wirken. Denn nicht nur ein Virus, nicht nur das Böse ist ansteckend, sondern auch das Gute. Nicht nur das Böse hat enorme Kraft, die Welt und das Leben der Menschen zu bestimmen, zu verändern, zu beherrschen, sondern auch das Gute. Nicht nur das Böse fängt im Kleinen an, sondern auch das Gute, das stärker ist als jede Macht der Zerstörung. Die Botschaft Jesu von der vergebenden Liebe Gottes, die auch denen gilt, die verloren sind, die alle einlädt, ihr Leben, ihr Denken zu überdenken und sich neu zu orientieren und die eines Tages in Fülle kommen wird, ist bis heute noch aktuell, wirksam und erfahrbar – auch für uns, auch unter uns. Gegen sie wirkt kein Impfstoff und nicht einmal das menschliche Versagen kann ihr Einhalt gebieten.
Mit seinem Gleichnis lädt uns Jesus ein, dieser Macht zu vertrauen und uns ihr ganz und voll anzuvertrauen, im Glauben und in der Hoffnung, dass sie Früchte bringen wird. Dass sie stärker ist als die Macht des Bösen und der Zerstörung und dass sie schon jetzt – obwohl häufig im Unsichtbaren, im Kleinen – unter uns wirkt. Wir müssen ihr nur in uns und unter uns Raum geben – wie einem Virus – denn sie hat die Macht in sich, uns und die Welt zu verändern und Grosses zu bewirken. Zum Besseren, wohl bemerkt. Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Frieden und Freude im heiligen Geist. (Rom. 14:17 ZUR) Und wiederum sprach Jesus und sagte: Womit soll ich das Reich Gottes vergleichen?  „Es ist einer Seuche gleich, die sich unaufhaltsam ausbreitete, bis alles durchseucht war.  (Variation zu Lk 13:20-21 ZUR)
Pfr. ThDr. Jiri Dvoracek

3 Kommentare:

  1. Ich habe in der Zeit des Lockdown insofern in einer sehr priviligierten Situation gelebt, da ich in einer Gemeinschaft lebe. Immer wieder kamen Menschen zu uns, die das alleine auf sich verwiesen sein nicht ausgehalten haben und dadurch in psychische Extremsituationen geraten sind. Mir gefällt diese modernisierte Gleichnisfassung vom Virus gut im Hinblick auf das Überspringen und die Verbreitungsgeschwindigkeit. Wo der Vergleich mit dem Virus hinkt, das ist der Punkt der Freiwilligkeit, denn die Infektion mit dem Corona-Virus wünscht sich niemand. Danke für den Denkanstoß.

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    1. Ich stimme vollkommen zu, dass sich niemand und – hoffentlich wenigstens in unserem Innersten – auch wir niemandem eine Infektion mit dem Corona-Virus wünschen. Ich bin jedoch nicht überzeugt, dass das Reich Gottes stets auf freiwilliger Basis eintritt. Wie oft haben wir in letzter Zeit gehört, dass man doch schnell zur "Normalität" zurückkehren möge oder die Idee gelesen, dass sich doch möglichst viele Menschen schnell anstecken möchten, damit das Ganze auch schnell wieder vorbei sei. Wie oft, handkehrum, zürnen wir unserem Gegenüber, das uns real oder vermeintlich Unrecht getan hat, gerne noch etwas länger anstatt zu vergeben? Wie oft beharren wir darauf, dass unsere Mitmenschen den ersten Schritt tun müssten, nur um uns etwas Recht zuzusprechen, wenn es die anderen schon nicht tut? Ich bin nicht sicher, ob wir jederzeit bereit sind für das Reich Gottes, ob wir bereit sind, alle Änderungen, die es mit sich bringt, freiwillig anzunehmen. Vielleicht müssen wir davon infiziert werden, wie von einem Virus

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  2. Ich denke da auch an Paulus, der - noch als Saulus - nicht gerade freiwillig zu Christus fand. Der eigentliche Unterschied ist für mich, dass es gute Gründe gibt, dem Virus Corona auszuweichen und dass Gottes Gnade immer ein geschenk ist, das man sich und anderen nur wünschen kann - manchmal mag es sein,d ass es sich nicht gleich so anfühlt,wie ein schönes Geschenk - sieht Saulus/Paulus. Ich denke auch, dass ein bisschen angst machen kann (oder auch große angst) zu begreifen, was für eine Gnade man da erfährt und welche Konsequenzend as haben könnte... ich danke für die Anregungen und Gedanken. Tamara

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