14. Januar 2021

Die Evangelischen Studierendengemeinden der DDR im Visier der Stasi

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Die Evangelische Studentengemeinde (ESG) Greifswald im Visier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) 1954-1974

Seit einigen Jahren arbeite ich im Vorstand des Evangelischen Forums (Landesverband der Evangelischen Akademiker*innen für Berlin und Brandenburg) mit und unser Vorsitzender Dr. Guntram Schulze wurde auf unseren Bibeldialog VERGEBEN(,) NICHT VERGESSEN aufmerksam. Er hat vor einiger Zeit intensiv zur Stasi-Situation der Studierendengemeinde in Greifswald recherchiert. In seinem Arikel dazu, der für den Blog zu lang wäre, zählt er die unterschiedlichsten Hintergründe und Geschicke der diversen IM auf, die in den Gemeinden und Fakultäten nach staatfeindlichen Aktivitäten suchten und oft nur das Ziel hatten zu „zersetzen“, was an Gemeinschaft außerhalb der staatlichen Kontrolle existieren mochte. Diese Zersetzungsaktivitäten haben viel kaputtgemacht, Leben zerstört – teilweise auch das der IM selbst. Die vielen, unterschiedlichen Kurzbeschreibungen der IM in diesem Bericht haben mich nachdenklich gemacht, weil sie mich mein zu eindimensionales Opfer-Täter-Bild zumindest hinterfragen ließen. Zu unserem Bibeldialog werden wir den ganzen Bericht mit den Quellenangaben auch als Lesestoff zur Verfügung stellen. Im Gespräch mit Marianne Birthler, die etliche Jahre für die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen in Berlin zuständig war, werden sicher auch andere Erfahrungen angesprochen werden. Heute im Blog deshalb nur das Fazit aus den Erlebnissen der Greifswalder Studierendengemeinde. Danke, Guntram, dass Du mir deinen Text zur Verfügung gestellt hast.

„Lässt man die Zeit mit den Aktivitäten des MfS im Blick auf die ESG in Greifswald Revue passieren, so fragt man sich: Wovor hatte die Staatsführung Angst, weshalb der hohe Aufwand des MfS? Wer damals zur ESG gehörte, weiß, dass sich die ESG als eine Gruppierung der Evangelischen Kirche verstand und auch so eingebunden war. Der Großteil der kirchlich gebundenen Studenten kam aus ihren Heimatgemeinden und suchte hier eine geistliche und geistige Heimat. Andere fanden die einladende Atmosphäre und offenen Gespräche, die alle Lebensbereiche der Studenten umfassten, anziehend. Auch die vielen Möglichkeiten, Kontakte in einer Umwelt zu knüpfen, die politisch und ideologisch verkrustet war, wirkten anziehend. Von staatsfeindlichen Aktivitäten konnte aber nicht die Rede sein. Trotzdem war der Staat misstrauisch, weil die Kirche ein Bereich war, der sich seinem Einfluss entzog. Man argwöhnte, dass die ESG gegen die sozialistische Erziehung der Jugend opponiere und ideologische Gegenpositionen gegen die wissenschaftliche Weltanschauung des Marxismus aufbaue. Zudem vermutete man, dass über die partnerschaftlichen Beziehungen zwischen der Kirche der DDR und der Bundesrepublik der westdeutsche Imperialismus die DDR unterwandern wolle und damit die Existenz der DDR bedrohe. Das MfS als von der SED beauftragtes Organ zur Sicherstellung ihrer Politik auf allen Gebieten des Lebens verfügte selbstherrlich über viele konspirative Möglichkeiten, das Leben der Bürger zu überwachen und zu beeinflussen. Eine parlamentarische Kontrolle dieser Arbeit existierte nicht. Durch die enge Verquickung zwischen Partei und den Organen des MfS hatte dieses Organ auch freien Spielraum bis hin zur Rechtsprechung. Allein für das Finden und Überprüfen der Eignung und Zuverlässigkeit – meistens aus den Bewerbungsunterlagen - verging einige Zeit: bis zu einem Jahr. Von den in dem Zeitraum von 1954 bis 1974 42 akquirierten IM schafften es 5 bis in leitende Funktionen der ESG, d.h. sie wurden zu Vertrauensstudenten gewählt. Unter den Geworbenen gab es aber auch eine ganze Reihe, die merkten, worauf sie sich eingelassen hatten und die Verbindung aufkündigten. Sie kamen unzuverlässig zu den Treffen mit dem Führungsoffizier, ließen sich verleugnen, gaben Studienprobleme an oder dekonspirierten sich, d.h. sie vertrauten sich einer zweiten Person über ihre Tätigkeit an. Wie kam es überhaupt dazu, dass sich so viele auf ihre zweifelhafte Verbindung mit der Stasi einließen? Den jungen Leuten kann man zugutehalten, dass sie noch zu unerfahren waren, das Spiel zu durchschauen, das das MfS mit ihnen vorhatte. Entweder kamen sie aus einem DDR-konformen Elternhaus, wo sie entsprechend erzogen worden waren. Oder sie waren noch so naiv und verängstigt, dass sie nicht wagten, der Werbung und Drohung zu widerstehen. Sich dann trotzdem wieder zu lösen, bedeutete Mut und Selbstvertrauen zu entwickeln, was einigen auch gelang."

4 Kommentare:

  1. Betreff: ESG Greifswald Vielen Dank für diese Zusammenfassung der Erfahrungen von 1954-1974. Ich habe nun 1978 (bis 1985) in eben dieser ESG gelebt. Unser Studentenpfarrer hatte 15 IM, die auf ihn angesetzt waren, wie wir nach der Friedlichen Revolution in einer Aufarbeitungskonferenz erfuhren. Meine Akten aus Greifswald habe ich gar nicht gelesen, weiß aber aus Fortführungen und Zitaten der Berliner Akten, wer in Greifswald über mich "Buch" geführt hat. Insgesamt waren mir bestimmte Personen suspekt, denen ich nicht vertrauen wollte, weil sie sich ausschließlich für den Friedenskreis oder den ESG aus der Bundesrepublik, den Niederlanden oder der Schweiz interessierten. Sehr froh bin ich, dass keinen Freundinnen und Freunde darunter waren. Aber da gibt es leider auch tragische Beispiele von Personen, die nicht nur den Tisch geteilt haben. Einige IM habe ich auch mal wieder getroffen, die samt und sonders sich herausgeredet haben, dass die Zeiten eben so gewesen waren. Aus der heutigen Sicht waren das alles eher schwache Persönlichkeiten aus einer Mischung, sich nicht trauen oder vermeintlich, das Richtige tun. Wenn man mich fragte, habe ich immer dazu geraten, an die Öffentlichkeit zu gehen und darüber berichten, dass man alles dem Seelsorger erzählt hätte. Damit war man in der Regel raus, wenn man nicht erpressbar war. Insgesamt waren wir so naiv in dieser Zeit, dass wir immer billigend in Kauf nahmen, dass die Stasi über uns informiert sein musste. Menschlich gesehen, hätten mir diese missbrauchten Menschen leid tun sollen, aber dazu wollte und will ich nichts unternehmen. Obwohl! Ich habe alle IM angeschrieben und sie zur einer Stellungnahme genötigt. Selbst die, die schon in der Schule (16-18 Jahre!!) über mich berichteten. Alle hatten Ausflüchte und Verniedlichungen. Es gibt eine Ausnahme, die hier unbedingt Erwähnung finden sollte. Ein Mitschüler aus der Penne hat mir 1988 (!, ja 1988) unter Tränen gestanden, dass es ihm leid tut, dass es sich hatte erpressen lassen. Ich habe nichts vergessen, aber habe allen verziehen. Das war nicht leicht, sicher nicht. Aber in unserer Familie haben andere weit mehr gelitten unter der Knute des MfS. Das ist hier nicht der Ort, das zu erzählen. Aber die Situation in der ESG Greifswald war dadurch von höchster Aufmerksamkeit geprägt. Ich bin in dieser Situation politisch erwachsen geworden und war bald zu weniger Kompromissen bereit, als wenn ich im Kreiskrankenhaus Anklam als Hilfspfleger geblieben wäre. Gottlob gab es dann den Studienplatz und die tolle Gemeinschaft in der ESG, aber auch in der KSG und nicht zu vergessen im Greifswalder Domchor. Erinnerung gehört zu unserem Erleben, Vergessen ist selten gut. Verzeihen können, gehört für mich zu wichtigsten Errungenschaften der Nachfolge Christi. Gesellschaftlich gesehen, kann der Rechtsstaat manchmal helfen in Einzelfällen. Was das mit den einzelnen Menschen macht, gehört in die Seelsorge. Schuld gehört aber ausgesprochen und sollte nicht bemäntelt werden. Am schwierigsten sind die Schicksale von Menschen zu bewerten, in deren Leben Täter und Opfer sich vereinigen. Ich hatte die große Gnade, bewahrt und behütet gewesen zu sein. An die Suizide in diesem Zusammenhang möchte ich jetzt gar nicht denken, denn das ist nicht wieder gutzumachen. In diesem Zusammenhang ist das MfS über Leichen gegangen.

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  2. Das Thema Schuld und auch Sünde sollen in unserem Bibeldialog Thema der Bibelarbeiten sein. morgen trifft sich das team noch mal und danach verschicke ich noch mal ein aktualisiertes Programm. Danke für deine Ausführugnen und Kommentar. LG. Tamara

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  3. DANKE, gibt es den Text noch in Gänze? KD

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